Das überzeitliche Opfer Christi


In der letzten Nummer unserer Zeitschrift haben wir bereits darauf hingewiesen, daß die katholische Kirche die Berechtigung für die Existenz der Heiligen Messe aus dem Auftrag Jesu Christi ableitet: „Tut dies zu Meinem Andenken“ (Lk 22,19). Im Meßopfer wird das Abendmahlsgeschehen (nicht das Kreuzesopfer) wiederholt und dadurch das Kreuzesopfer vergegenwärtigt.


Zu fragen ist allerdings noch, wie sich die Mehrzahl der Heiligen Messen zu der Einzahl des Kreuzestodes Christi verhält. Denn das Heilige Meßopfer wird jeden Tag, und zwar von jedem einzelnen Priester dargebracht. Christus dagegen hat nur ein einziges Mal gelitten und sitzt nun zur Rechten Seines Vaters im Himmel. Er hat „ein für allemal ... durch das Opfer Seiner selbst die Sünde“ getilgt (Hebr 9,26) und „eine ewig gültige Erlösung bewirkt” (Hebr 9,12 - Hervorhebungen durch den Autor). Müßte Er noch einmal leiden und sterben, wäre die von Ihm bereits vollbrachte Erlösung nicht vollkommen und nicht hinreichend gewesen!

Beim Versuch, diese von uns gestellte Frage zu beantworten, möchten wir darauf aufmerksam machen, daß wir, die Menschen, als unvollkommene Wesen der Zeit unterworfen sind. Unser Denken unterliegt dem Schema: Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft. Der gestrige Tag war für uns z. B. gestern noch in der Gegenwart, heute ist er schon in der Vergangenheit. Der heutige Tag lag für uns gestern noch in der Zukunft, heute ist er für uns in der Gegenwart. Der morgige Tag ist von heute aus gesehen noch Zukunft, übermorgen wird er schon der Vergangenheit angehören. Wir unterliegen diesem zeitlichen Nacheinander, dieser sich ständig „verschiebenden“ Gegenwart, aus der wir nicht herausbrechen können. Es gibt für uns keine zwei gleichzeitige „Gegenwarten“, jeder Augenblick ist unwiederkehrbar und - in diesem Zusammenhang deutlich erkennbar - auch einmalig.

Gott aber steht über der Zeit, Er ist ihr nicht unterworfen! Gewohnheitsmäßig tragen wir zwar ständig unsere menschliche Denkweise an Ihn heran und betrachten Ihn als in der Zeit existierend. An sich aber sieht Gott alles, was wir zeitlich als nacheinander sich vollziehend wahrnehmen, gleichzeitig oder - was eine präzisere Formulierung ist - überzeitlich. Bei Ihm gibt es keine Zeit, kein Gestern und kein Morgen, sondern nur ein überzeitliches „Heute“! (Diese Sicht der Ewigkeit als der unaufhebbaren Gegenwart verhilft uns auch zum besseren Verständnis der kirchlichen Lehre von der Ewigkeit, der Vorsehung und des Allwissens Gottes!) Da aber Gott Mensch geworden ist, ist Er Seiner Menschheit nach (in Jesus Christus) allerdings der Zeit unterworfen. Christus hat sich als Mensch in nichts (die Sünde ausgenommen - sie gehört übrigens nicht (notwendig) zum Mensch-Sein!) von allen anderen Menschen unterschieden. So hat Er auch „in der Zeit“, in einem ganz konkreten Zeitraum die Erlösung bewirkt. Nichtsdestoweniger steht für Gott als Gott das Erlösungswerk Jesu Christi überzeitlich vor Augen. 

Nun ist Christus auferstanden und in den Himmel aufgefahren. Dort „verrichtet Er den Dienst im Heiligtum, im wahren Zelt“ (Hebr 8,2). Das Priestertum Christi ist unvergänglich, weil Er selbst lebt, um Fürsprache für uns einzulegen (vgl. Hebr 7,24f.). Sein Opfer bestand ja im willentlichen Opferakt. Zeitlich gesehen vollzog Jesus dieses Opfern etwa im dritten Jahrzehnt unserer christlichen Zeitrechnung, aber vor Gott steht das Opfer Christi überzeitlich, ewig vor Augen! Er ist das Lamm, das - wie der heilige Apostel Johannes uns berichtet - vor dem Throne Gottes dasteht „wie geschlachtet“ (Offb 5,6).

Und wenn das Heilige Meßopfer gefeiert wird, dann wiederholt sich nicht das (geschichtliche) Leiden des Herrn „in der Zeit“, sondern die Kirche nimmt durch ihr Tun im Auftrag Christi Bezug auf Seinen überzeitlichen (!) Opferakt, der somit in jeder Heiligen Messe sakramental gegenwärtig gesetzt wird.

Die Römische Liturgie bringt diesen Sachverhalt in ihrem dritten Gebet nach der Heiligen Wandlung klar zum Ausdruck, indem der zelebrierende Priester betet: „Demütig bitten wir Dich, allmächtiger Gott: Dein hl. Engel möge dieses Opfer zu Deinem himmlischen Altar emportragen vor das Angesicht Deiner göttlichen Majestät“. Dadurch gibt sie zu erkennen, daß sie das auf Erden gefeierte Opfer als Teilhabe und Teilnahme am himmlischen, d. h. am überzeitlichen, ewigen Opfer unseres Hohenpriesters Jesus Christus betrachtet! In der irdischen Liturgie spiegelt sich die himmlische Liturgie wider, in ihr aktualisiert sich (für uns) der erlösungbringende Opferakt Christi. Das göttliche „Heute“ erscheint in der menschlichen Zeit, in der jeweils einzelnen zeitlichen Gegenwart! Nicht umsonst sprechen die östlichen Christen von der Heiligen Messe als von der „Göttlichen Liturgie“!

Deswegen bedeutet die Meßfeier nicht die zahlenmäßige Wiederholung des Kreuzesopfers, nein, bei jedem einzelnen Meßopfer bekommen wir Anteil an dem einen und demselben Kreuzesopfer Jesu Christi! Von uns aus gesehen (zeitlich) nehmen wir wiederholt und mehrfach Bezug auf dieses Erlöserleiden, von Gott aus gesehen stellt jede Heilige Messe immer das eine und dasselbe dar: das Erlösungswerk Seines Sohnes! In entsprechender Weise betet auch die Kirche z. B. in der Sekret des 9. Sonntags nach Pfingsten: „Wir bitten Dich, o Herr: laß uns immer würdig an diesen Geheimnissen teilnehmen, da ja das Werk unserer Erlösung vollzogen wird, sooft man das Gedächtnis dieses Opfers feiert“. Somit ist das „Gedächtnis“ des Opfers der Vollzug des Opfers selbst!

Von Seiten der Protestanten wird gegen die katholische Meßopfertheologie ständig eingewandt, daß durch die Messe das Kreuzesopfer in den Schatten gestellt und dessen herausragende Bedeutung geschmälert würde. Dieser Auffassung liegt ein grobes Mißverständnis der kirchlichen Lehre zugrunde. Man sagt, das Kreuzesopfer allein sei schon ausreichend zur Erlangung des ewigen Heils, es bedürfe keines Meßopfers mehr.

Es stimmt - und das war immer Lehre der Kirche -, daß nur das Kreuzesopfer den Fluch der Sünde vernichtet und uns die Erlösung (grundsätzlich) gebracht hatte. Nur müssen die Gnaden der Erlösung jedem Menschen erst zugeführt werden, um für ihn konkret wirksam werden zu können! Das geschieht durch die Sakramente, zuerst durch das Sakrament der Heiligen Taufe. Ohne sie nützen uns die noch so reichen und herrlichen Gnaden der Erlösung nichts. Und die Taufe (samt Firmung und Buße) ist - liturgisch gesehen - auf die Heilige Messe ausgerichtet. In den ersten christlichen Jahrhunderten ist es in der Kirche verbreitet gewesen, daß die Taufbewerber nach dem Empfang der Taufe und der darauf folgenden Firmung zum ersten Mal auch an der vollständigen Liturgie teilgenommen haben, also auch an deren eucharistischem Teil. Es ist eben altchristliche Tradition, daß die Taufe die Befähigung zur Liturgie darstellt und in ihr gewissermaßen ihre Erfüllung findet! 

Nein, das Meßopfer verdunkelt nicht die Verdienste des Kreuzesopfers, es eröffnet uns erst den Zugang zu ihm, zu seinen Gnaden. Erst im Meßopfer wird für den einzelnen Menschen das Kreuzesopfer wirksam (vgl. den vorletzten Absatz), erst dadurch werden uns dessen überreiche Gnaden zugewendet. Das Kreuzesopfer, für sich allein genommen, ohne die von Christus eingesetzten Sakramente, ohne das Meßopfer würde den einzelnen Menschen nicht erreichen, würde für ihn unwirksam bleiben! Daher ist es - richtig verstanden - vollkommen berechtigt zu sagen, daß die Heilige Messe genau so viel wert ist wie das Kreuzesopfer selbst, weil sie eben nicht in Konkurrenz zu ihm steht!

Welch einem göttlichen Geheimnis dürfen wir in der Feier der Heiligen Messe beiwohnen! Haben wir da nicht Anteil am ewigen „Heute“ Gottes? Durch Seine Aufforderung im Abendmahlssaal, zu tun, was Er selbst getan hatte, eröffnete uns unser göttlicher Hoherpriester den Weg zu Seiner am Kreuz unter Beweis gestellten und in der Liturgie der Kirche für uns wirksam werdenden göttlichen Erlöserliebe zu Seinen armen Geschöpfen! 

 

P. Eugen Rissling



Zurück Hoch Startseite