Kirche und Tradition


Teil 3

Der Protestantismus

Seitdem Jesus Christus, der göttliche Erlöser, der Stifter und das Haupt der Kirche, dieser noch vor Seiner Himmelfahrt das wesentliche Glaubensgut unter anderem und vor allem auch zu Missionszwecken überantwortete, vergegenwärtigte sie sich fortwährend die einzelnen Glaubenswahrheiten. Je nachdem welche theologische Fragen sich jeweils aktuell stellten oder welche Glaubenspunkte angezweifelt wurden, sah sich die Kirche veranlaßt, sich in diesen Bereichen verstärkt um Antworten und um Klärung zu bemühen. Besonders auf den großen allgemeinen Konzilien, den Bischofssynoden mit gesamtkirchlicher Bedeutung, wurde diese wertvolle theologische Arbeit geleistet. 

Leider war es nicht zu vermeiden, dass sich Gruppen und Gemeinschaften bildeten, die in einem oder mehreren wichtigen Punkten nicht den Glauben der Kirche teilten und sich vom lebendigen Organismus der katholischen Kirche trennten. Aus der hl. Schrift wissen wir, dass solche Gruppierungen bereits in der apostolischen Zeit bestanden. Dabei ist es interessant festzustellen, dass sämtliche Irrlehren, die von der Kirche auf den bereits erwähnten sogenannten Ökumenischen Konzilien verworfen wurden, nicht das Wesen und die Struktur der Kirche als solcher leugneten. Auch wenn z.B. die Irrtümer des Arianismus (die Gottheit Christi geleugnet), Nestorianismus (letztendlich die eigentliche Menschwerdung Christi abgelehnt) oder auch des Monophysitismus (die wahre Menschheit Christi unterschlagen) einer äußerst folgenschwerer Natur waren, weil sie alle schließlich - bewusst oder unbewusst - die Erlösung in Frage stellten, muß Arius, Nestorius oder Eutyches trotzdem gerechterweise zugestanden werden, dass sie nicht an der Kirche als Heilsinstitution und -vermittlerin zweifelten. Das Prinzip der Tradition als heiliger Überlieferung blieb unangetastet. Auch wenn zwischen der römisch-katholischen und der orthodoxen Kirche offiziell seit 1054 ein Schisma besteht, auch wenn es zwischen beiden theologische Meinungsverschiedenheiten z.B. in der Frage des Hervorgangs des Heiligen Geistes in der Trinität oder in der Frage der päpstlichen Vollmachten gibt, bekennen sich die verschiedenen orthodoxen Nationalkirchen nicht weniger als die katholische Kirche zum Grundsatz der kirchlichen Tradition. Für einen orthodoxen Christen ist es genauso unvorstellbar wie für einen Katholiken, das eherne Prinzip der kirchlichen Überlieferung anzuzweifeln geschweige denn abzulehnen. 

Erst der Protestantismus des 16.Jahrhunderts hat im großen Umfang mit der kirchlichen Tradition gebrochen. Zwar gab es bereits im christlichen Altertum neben dem Manichäismus noch verschiedene andere gnostische Bewegungen, mit denen sich die Kirche teilweise sogar hart auseinanderzusetzen hatte. Nun können aber diese Sekten - obwohl sie gelegentlich den Namen Christi im Mund führten - nicht als christlich bezeichnet werden, da ihre Lehren größtenteils völlig unchristlich waren (so gehen sie z.B. von einem zweifachen Urprinzip aus: einem guten und einem bösen). Auch kennt die Kirchengeschichte die Irrlehren der Katherer bzw. Albingenser und Waldenser, die etwa seit dem 11./12.Jahrhundert der Kirche viel zu schaffen gemacht haben und wie der spätere Protestantismus radikal die kirchliche Überlieferung abgelehnt haben. Nur ist es aber allen diesen mittelalterlichen Häresiebewegungen in der Folge nicht gelungen, das christliche Abendland so nachhaltig und folgenschwer zu spalten wie dem ehemaligen Augustinermönch Martin Luther. 

Entgegen der vorherrschenden populären Meinung ging es Luther bei seiner “Reformation” letztendlich nicht darum, etwa die äußerst bedauerns- und verurteilenswerten Mißstände in Volk und Klerus abzuschaffen oder sich gegen das einseitige Verständnis des kirchlichen Ablasses auszusprechen. Dieser Ablaßstreit war eher der äußere Anlaß denn die Ursache für sein Auftreten. Wie aus der in unserer Zeitschrift parallel veröffentlichten Artikelreihe “Die Gefahren des protestantischen Gottes- und Menschenbildes” hervorgeht (“Beiträge”, ab Nr.20), bestand der Kern der neuen lutherischen Lehre in der Frage nach der Rechtfertigung des Menschen vor Gott, darin, wie er, Luther, einen “gnädigen Gott” bekomme. Wie bereits dargestellt, reduzierte sich bei ihm der ganze Inhalt des christlichen Glaubens unter Ausschluß der Liebe auf das einseitige Vertrauen auf die Kraft der Erlösung Jesu Christi, auf die Bemühung, hier auf Erden die Gewissheit des eigenen Heils zu erlangen, schließlich darauf, sich selbst ständig einzureden, man sei gerettet! Der geringste Zweifel am eigenen ewigen Heil war nach Luther schon ein Zeichen des Unglaubens, des Verworfenseins vor und von Gott. 

Bei diesem krankhaften Festhalten an einer Art Selbsthypnose entscheidet aber allein das Vorhandensein oder das Fehlen dieser degenerierten Form des “Glaubens” über das ewige Heil eines Menschen. Erstens bedarf es nicht (mehr) irgendeines äußeren Heilmittels (Sakramente!), wodurch einem das Heil vermittelt wird. Wenn nach Luther allein der Glaube (was er halt darunter versteht) hinreichend ist zur Erlangung des Heils, dann braucht es folgerichtig auch keiner Sakramente, die bei ihrer Spendung aus sich bestimmte Gnaden vermitteln, d.h. die ihre Wirkursache in ihrer Einsetzung von Christus haben und ihre Gnadenkraft auf Seinen Erlöserwillen zurückführen - man kann sie dann sozusagen getrost über Bord werfen! Ferner - und darum geht es uns hier vorrangig - bedarf es bei diesem sträflich verkürzten Glaubensbegriff auch keiner Instanz mehr (Kirche!), die einem das Heil vermittelt, d.h. die von Christus mit der Heilsvermittlung (Glaubensverkündigung und Sakramentenspendung) beauftragt wurde. Nicht nur die Tradition, Autorität oder die Weisungen der Kirche verlieren hier jegliche Bedeutung - sie selbst, d.h. sie als (Heils-)Institution, hat in der lutherischen Heilsordnung keinen Sinn mehr. Wozu braucht man sie denn auch, wenn jeder Einzelne sich selber seines Heiles gewiß werden müsse, wenn jeder sich selber das ewige Heil allein im Vertrauen auf Christus einreden könne, ohne dass dazu noch unbedingt etwas anderes, nämlich der von der (Gottes-)Liebe geprägte und geformte (d.h. tätige) Glaube, hinzukäme??? 

Zwar läßt Luther formell noch einige Sakramente und das Amt gelten. Nur würden nach ihm die Sakramente die Gnaden, wenn überhaupt, dann nicht aus sich bewirken - sie seien für den Empfänger nur Mittel der Gewißheitsbildung (!), nur Zeichen zum Zweck der Erbauung im “Glauben”, dass Gott ihnen schon vergeben habe. “In der Schrift ´Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche´ statuiert Luther nun: ´Es kann nicht wahr sein, dass den Sakramenten eine wirksame Kraft der Rechtfertigung innewohne oder dass sie wirksame Zeichen der Gnade seien.´ Daher heißt es jetzt bei der Taufe nicht mehr, dass sie etwas ´wirkt´, sondern nur, dass sie etwas ´bedeutet´”1. Auch das Amt (Predigeramt) hat nach ihm lediglich die Aufgabe, seine eigene verkehrte “Glaubens”vorstellung zu fördern. 

Als der katholische Theologe und Humanist Johannes Eck ihm auf der Leipziger Disputation 1519 klarmachte, dass er sich mit seinen neuen Ideen nicht nur gegen das Papsttum, sondern auch gegen sämtliche allgemeine Konzilien richte, mußte Luther dies auch zugeben: “Gefangen, äußert Luther das Bekenntnis: auch Konzilien können irren. Luther hatte nicht nur das göttliche Recht des Papsttums geleugnet, er war weit darüber hinausgegangen. Der katholische Kirchenbegriff war von ihm radikal preisgegeben. [...] Auch Luthers eigene Entwicklung ist nun ganz beherrscht von dem in Leipzig gemachten Zugeständnisse, dass Papst und Konzil irren können und geirrt haben. [...] Die Konsequenz war die Leugnung der Sichtbarkeit der Kirche und damit die grundsätzliche Trennung von der Tradition als bindender Glaubensmacht, also auch z.B. von allen Vätern, Augustin nicht aus-, sondern bewusst mit eingeschlossen. Damit aber war auch das gesamte Leben und die Geschichte der Christenheit desorientiert und in Frage gestellt.”2

Um es noch einmal zu verdeutlichen: Was tritt bei Luther an die Stelle der Kirche? Welche Norm des Glaubens läßt er gelten, wenn er schon die kirchliche Tradition, ja die Kirche als solche ablehnt? “Luther doziert 1520: ´In Sachen des Glaubens ist jeder Christ sich selber Papst und Kirche, und nichts kann angeordnet werden bzw. keine Anordnung kann gehalten werden, wenn das in irgendeiner Weise auf eine Gefahr des Glaubens hinauslaufen könnte´ (Weimarer Ausgabe 5, 407, 35)”3. “Glaube” wohlgemerkt im Sinne Luthers! “Aus dem angeführten Satz wird unter neuem Gesichtspunkt deutlich, was wir schon in anderen Zusammenhängen gefunden haben, wie nämlich der reflexive Glaube die Kirche faktisch auf das Ich einengt”4. Plötzlich wird anstelle der Kirche Jesu Christi das eigene Ich Martin Luthers und eines jeden einzelnen Christen zur allgemeingültigen Glaubensnorm des gesamten Christentums erhoben! Nicht mehr die lebendige Überlieferung, nicht mehr die von unserem göttlichen Erlöser gestiftete und vom Heiligen Geist begnadete Kirche ist als Hüterin der Erlösung anzusehen, sondern jeder Christ als Privatmensch, unabhängig von seiner religiösen Bildung, dem Ernst seines Lebenswandels und der Stellung innerhalb der Kirche. Jedem Menschen, ob er nun losgetrennt ist von der Gemeinschaft der Kirche und der Gesamtheit des Christentums oder nicht, wird von Luther das Recht und die Vollmacht zugesprochen, das Ergebnis seines eigenen begrenzten menschlichen Denkens zum obersten Dogma des christlichen Glaubens zu erheben, nach dem sich alles andere und alle anderen zu richten haben! 

Selbstverständlich darf und soll jeder Christ und Katholik bestrebt sein, den christlichen Glauben zu verstehen, die Zusammenhänge zu erkennen, die Glaubenserkenntnis zu gewinnen. Ist ja der Heilige Geist, der uns in der Firmung geschenkt wird, u. a. auch der Geist der Wissenschaft und des Verstandes. Nur ist diese persönliche Bemühung um Glaubensverständnis, bei welcher man auch die ganze Tradition der Kirche zur Hilfe heranzieht, doch etwas wesentlich anderes als der Lutherische Aufstand und die Rebellion gegen die Kirche und gegen den Glauben der Kirche! Zwar werden später innerhalb des Lutherischen Protestantismus einige Schriften zum Rang einer Glaubensnorm erhoben (z.B. die sogenannte Augsburger Konfession). Nur haben diese nur das “Glaubens”verständnis des “Reformators” (und seine private und unzulängliche Auslegung der Hl. Schrift) zur Grundlage. Durch den Ausfall des Bezugs zur lebendigen kirchlichen Tradition fehlt aber diesen Schriften die Rückführung deren Inhalte auf den Glauben der Apostel! 

Um die ganze Tragweite dieser Neuerung Luthers besser ermessen zu können, sei ein Vergleich gestattet. Nach der katholischen Lehre sind Papst und Bischöfe Inhaber des kirchlichen Lehramtes. Sie werden geweiht und auch dadurch von oben beauftragt, ihr von Gott erhaltenes Lehramt auszuüben. Die Gnade Christi, die bei der Berufung zum Weihepriestertum, bei der sakramentalen Weihe und dem Lehr- und Predigtauftrag zum Vorschein kommt, steht hier im Vordergrund. Nicht in seiner Eigenschaft als Privatmensch hat der kirchliche Amtsträger in Aktion zu treten, sondern als Inhaber eines bestimmten geheiligten Amtes, d.h. mit Gnaden versehen bzw. beschenkt! Nach Luther dagegen bewirke bei einem Menschen nicht einmal die Taufe die innere Reinigung. Seine Sünden würden ihm nicht weggenommen, sondern nur wie mit einem weißen Tuch zugedeckt. Der Mensch bleibe trotz Taufe durch und durch Sünder, zu keinem guten Werk fähig, ständig nur sündigend. Er werde lediglich äußerlich für gerecht gehalten, ohne dass diese Gerechtigkeit etwas mit seinem Inneren, mit seinem Herzen und seiner Seele zu tun habe. Und dieser Mensch, der auch bei jedem scheinbar guten Werk nichts anderes tue (tun könne) als sündigen, soll nun in der Lage sein, als Interpret, als authentische Ausleger und Deuter des Evangeliums, d.h. des göttlichen Willens, aufzutreten? Ob das nicht anmaßend und überheblich ist... 

Sich vom gesunden Glauben entfernend, das Ich an die Stelle der Kirche setzend, verwickelten sich die “Reformatoren” immer mehr in Widersprüche. “Es ist unvermeidlich, dass, wo solche Grundsätze angenommen werden, die Kirche bald in so viele Gruppen zerfallen wird, als es religiös selbstständig denkende Menschen gibt. Schon ein Jahr, nachdem Luther in der zweiten Psalmenvorlesung den Grundsatz ´Jeder Christ ist sich selber Papst und Kirche´ gelehrt hatte, begann die Sektenbildung. Karlstadt, Zwingli, Müntzer und Schwenckfeld meinten auch, sie seien ´sich selber Papst und Kirche´” (Hacker, ebd., S.258.). Einverstanden konnte sich aber Luther mit dieser Entwicklung der Dinge keinesfalls erklären. 

Wo jeder “sich selber Papst und Kirche ist”, gibt es auch keine allgemeingültige Glaubensnorm mehr. Wo sich jeder Christ seinen eigenen Glauben zusammenbasteln darf und soll, gibt es ebenso keine Gemeinschaft jener mehr, die denselben Glauben teilen und sich gegenseitig im gemeinsamen Glauben aufbauen. Die Kirche wird vernichtet, die Religion wird zerstückelt und zu einer Art Privatangelegenheit abgestempelt. Die Christenheit verliert (fahrlässig!) ihre Einheit, die Einheit im Glauben, und bietet somit ihren Feinden unnötig Angriffsflächen. Indem also sämtliche protestantische Gruppierungen das kirchliche Prinzip der Tradition als lebendiger Überlieferung des apostolischen Glaubens ablehnten, trennten sie sich von der Kirche als der Heilseinrichtung Jesu Christi und begeben sich als Folge davon in größte Gefahr für ihren Glauben und ihr Seelenheil. 

 

P. Eugen Rissling


1 Hacker, P., Das Ich im Glauben bei Martin Luther. Verlag Styria 1966, S.214. 
2 Lortz, J., Die Reformation in Deutschland. Herder 1982, S.223f. 
3 Hacker, P., ebd., S.255. 
4 Hacker, ebd., S.255.

 

 

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