Ist die katholische Ehemoral noch haltbar?


Wohl im Leben eines jeden Volkes gibt es Ereignisse, die in ihrer Bedeutung und Tragweite weit über das hinausgehen, was ihnen im Augenblick anzusehen ist. Oft erst im Nachhinein erkennt man, dass und wie sich diese Ereignisse prägend für die ganze weitere Geschichte der betreffenden Gesellschaft ausgewirkt haben. Entweder entsteht dabei etwas Neues, noch nie da gewesenes, oder es bricht bei diesem Ereignis etwas hervor, bahnt sich einen Weg, was sich bis dahin oft nur im Stillen angestaut hat. In jedem Fall haben diese Ereignisse gravierende Folgen für die ganze weitere geschichtliche Entwicklung der betreffenden Gesellschaft. Zweifelsohne gehören in der Geschichte des deutschen Volkes im 20.Jahrhundert die Jahre 1933 bzw. 1945 zu solchen Ereignissen. Dies wird wohl niemand anzweifeln. 

Nun ist aber auch das Jahr 1968 zu solchen nachhaltig prägenden geschichtlichen Ereignissen dazuzurechnen, in welchem sich infolge der ursprünglich studentischen Revolten in unserer Gesellschaft in mancherlei Hinsicht eine moralische Revolution ereignet hat. Neben der Auflehnung gegen die bisher streng auf Autorität aufgebaute staatliche Gesellschaft vollzog sich unter anderem auch ein Umsturz auf dem sexuellen Gebiet. Es wurde nämlich ab da öffentlich und ungeniert das Postulat der sogenannten “freien Liebe” aufgestellt. Nicht mehr Ehe und eheliche Treue waren hoch angesehen - diese christlichen Werte wurden bewusst der Lächerlichkeit preisgegeben. Nein, schrankenloses (!) Ausleben sexueller Lust und Begierlichkeit, verbunden mit häufigem Partnerwechsel, wurde auf die Fahnen dieser 68-er-Bewegung geschrieben. Mit geschmacklosen und populistischen Parolen hat man dem eigenen Verlangen nach in jeglicher Hinsicht hemmungslosen Sex Ausdruck verliehen. 

Sicherlich hat auch die Verbreitung der sogenannten Antibabypille entscheidend einen Beitrag zum Entstehen dieser niveaulosen Mentalität beigetragen. Wenn sexuelle Kontakte scheinbar keine bleibenden sichtbaren Folgen mehr haben, gibt man sich ihnen halt umso rücksichtsloser hin. Seitdem überschwemmt unsere Gesellschaft eine Welle pornographischen Schmutzes nach der anderen. Es ist heute kaum ein Spielfilm mehr anzutreffen, in dem nicht wenigstens einmal sämtliche Hüllen fallen würden. Die Zeitschriften sind voll von Nacktabbildungen. Zum Beispiel die wöchentliche Jugendzeitschrift “Bravo” (Auflagestärke von 1.400.000 Exemplaren!) hält sich für verpflichtet, den Teenagern nicht nur verbal zu erklären, wie man es macht, sondern dies häufig auch mit Fotos zu demonstrieren. 

Sexualaufklärung in der Schule (nicht selten auch in Konfessionsschulen!) besteht praktisch in der Anleitung zum Gebrauch von Verhütungsmitteln, also in der Anleitung zum Sex. Der Appell an das Verantwortungsbewußtsein der Jugendlichen wird kaum vernommen, geschweige denn der Aufruf zur vorehelichen Enthaltsamkeit und Keuschheit. Ehescheidung, mehrfache Wiederverheiratung, Seitensprünge, Konkubinat (“wilde Ehen”), häufiger Partnerwechsel sind inzwischen alltäglich geworden und gehören in nicht wenigen Gesellschaftsschichten schon beinahe zum guten Ton. Es ist klar, dass diese gewichtigen sittlichen Verirrungen in keinem Fall in Einklang mit der genuinen katholischen Sexualmoral zu bringen ist. Denn gerade Ehe, ihre Unauflöslichkeit, eheliche Treue, Selbstkontrolle und voreheliche Keuschheit werden im christlichen Glauben großgeschrieben. Wie sind aber diese bedeutenden christlichen Werte zu begründen, besonders angesichts der massiven Propaganda der “freien Liebe” durch die Massenmedien? Sind sie in der heutigen “aufgeklärten” Zeit überhaupt noch zu aufrechtzuerhalten? 

Nun, welche Vokabel wird von den Verfechtern des totalen sexuellen Liberalismus ständig im Munde geführt? Es ist das Wort “Liebe” - mit ihr versucht man heute nahezu alle Narrenfreiheiten zu erklären und zu rechtfertigen. Was ist aber das Wesen der wahren Liebe? Von ihr im eigentlichen Sinne des Wortes kann nur dann gesprochen werden, wenn sie aufs Ganze geht, wenn sie aufs Ganze ausgerichtet ist! Die Liebe will den Geliebten in gewisser Hinsicht ganz und uneingeschränkt für sich haben, gleichzeitig schenkt auch sie sich dem Geliebten völlig hin. Somit ist sie ihrem Wesen nach ungeteilt und unteilbar, was sowohl in personeller als auch in zeitlicher Hinsicht gilt. Dies läßt sich sowohl für die Beziehung des Menschen zu Gott als auch für die zu anderen Menschen sagen, hier insbesondere für die sich auf Anziehungskraft und besondere Zuneigung zum anderen Geschlecht gründende Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau. 

Deshalb kann man z.B. im Hinblick auf die eheliche Liebe nicht sagen: ich liebe dich und andere Männer bzw. Frauen, oder: ich liebe dich nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, und dann nicht mehr. Wollte jemand der eigenen Liebe auf diese Weise eine Grenze oder Schranke setzen, würde er nicht mehr den vermeintlich geliebten Menschen wahrhaft lieben! Denn die Liebe als solche hat die Ausrichtung auf die Ewigkeit, die Tendenz zum Unendlichen. Deswegen kann sie ja auch einen Menschen glücklich machen. Daraus ergibt sich, dass die wahre Liebe weder einen Partnertausch noch die sogenannte “Ehe auf Zeit” dulden kann. Da diese beiden Formen der zwischenmenschlichen Beziehung bewusst (und somit willentlich) ein Ende ihrer Zuneigung in Kauf nehmen, fehlt ihnen dieser für die Liebe wesenhafte Bezug auf das Vollkommene. Daher muß wohl in diesen beiden Fällen entweder Begierde oder Zuneigung/Verliebtheit im Spiel sein - von Liebe kann hier nicht gesprochen werden! Sollte aber jemand ehrliche Absichten haben im Hinblick auf seinen - wie man heute sagt - Lebenspartner, wird sich diese Beziehung früher oder später zu einer Ehe im christlichen Sinn umgestalten müssen, d.h. zu einer Beziehung, bei der beide Seiten eben bereit und willens sind, in dargelegter Weise aufs Ganze zu gehen. 

Warum sind aber nach katholischer Lehre sowohl außer- als auch voreheliche sexuelle Kontakte verboten? Warum ist etwas außerhalb der Ehe Sünde, was innerhalb der Ehe von der Kirche als erlaubt und - da wir, Menschen, den Herrgott zum Schöpfer haben - sogar als gottwohlgefällig angesehen wird? Warum ist die Ausübung der Geschlechtlichkeit auch jenen Paaren nicht gestattet, die zwar noch nicht verheiratet sind, aber dennoch ernsthafte Absichten miteinander haben und womöglich auch kurz vor der Eheschließung stehen? Um darauf eine Antwort zu geben, wollen wir uns vergegenwärtigen, was der ehelicher Akt ist, was er bedeutet. Wenn zwei Menschen ihre Geschlechtlichkeit ausüben, dann bedeutet dies, dass sie sich gegenseitig den Zugang zu ihrem eigenen intimsten Bereich gewähren, dass sie sich für einander gänzlich öffnen und miteinander vereinigen (einig-, eins-werden). Der eheliche Akt bedeutet somit restlose Hingabe aneinander, ein gegenseitiges ganzheitliches Sich-Verschenken an den anderen, er ist Ausdruck dieser gemeinsamen Hingabe und Liebe. 

Weil es aber beim ehelichen Akt wesentlich um diese Liebe geht, kann zu sexuellen Handlungen sinnvollerweise nur berechtigt sein, wer sich auch unwiderruflich bereit erklärt hat, den anderen selbstlos, ungeteilt und zeitlich unbegrenzt zu lieben, wer feierlich und ohne Wenn und Aber vor Gott und der Kirche sein endgültiges “Ja”-Wort zu dieser uneingeschränkten Liebe gegeben hat! Sämtlichen außerehelichen Beziehungen fehlt gerade dieser Treueschwur, dieses liebende Sich-Fest-Binden und Sich-Fest-Machen am geliebten Menschen. Da ist immer noch die Option gegeben, sich im berühmten Bedarfsfall, d.h. wenn es in der Beziehung zum anderen nicht so richtig “funktioniert”, von ihm zu trennen. 

Auch einer vorehelichen Beziehung, mögen beim Pärchen noch so ernste und edle Absichten im Spiel sein, fehlt noch dieses Moment der Endgültigkeit und Unwiderruflichkeit! Erst wenn von beiden dieses Moment der Ewigkeit bewusst in ihre Beziehung miteingeschlossen wird, dürfen sie Handlungen begehen, die als solche Ausdruck restloser Liebe zweier Menschen zueinander sind. Somit steht sexuelle Vereinigung nicht schon gleich am Anfang, sondern gewissermaßen erst am Ende eines Prozesses, der in einen besonderen und für das Paar einmaligen ehelichen Lebensbund einmündet. Sie darf nicht lediglich als Mittel zu Gewinnung von Lustempfindungen angesehen, sondern soll als Ausdruck und Bestätigung des unwiderruflichen Willens zweier Menschen betrachtet werden, in der gegenseitigen Beziehung aufs Ganze zu gehen, den anderen zu lieben! 

Auf dem Hintergrund dieser Ausführungen läßt sich deutlich erkennen, dass jeglicher außer- und voreheliche Geschlechtsverkehr in gewissem Sinn einer Perversion der Liebe gleichkommt. Denn sein Vollzug, ohne dass sich dabei die Beteiligten im Zustand der geistig-seelischen Ganzhingabe befinden, stellt einen eindeutigen Mißbrauch des ehelichen Aktes dar. Daher bremst und verhindert die genuine Sexuallehre der katholischen Kirche nicht etwa die gesunde Entfaltung der sogenannten Liebeskräfte des Menschen, wie ihr zahlreich vorgeworfen wird. Im Gegenteil, durch den Verweis auf die unabänderlichen Werte der Ehe und Familie, durch die Einschärfung der ehelichen Unauflöslichkeit und der vorehelichen Enthaltsamkeit trägt sie erst zu dieser gesunden Entwicklung bei und ermöglicht sie, da sie ja den Menschen den Blick für die wahre Liebe schärfen läßt! 

 

P. Eugen Rissling

 

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