Vom Sinn der Ohnmacht


Es gibt wohl im Leben eines jeden Menschen verschiedene Phasen. Einmal gelingt uns alles, was wir unternehmen, fast von selbst, man muss sich da kaum anstrengen. Man hat einen enormen Schwung und besitzt eine große Leistungskraft, so dass es uns kaum Mühe kostet. 

Dann aber gibt es auch andere Zeiten, von denen eher das Gegenteil gesagt werden muss. Es sind Phasen, in denen sich der Mensch bemüht und anstrengt, aber dennoch hat er das Gefühl, als würde ihm nichts gelingen, als hätte er nur Sand im Getriebe. Jede Mühe scheint umsonst zu sein, alles, woran man Hand anlegt, kostet einen unheimlich viel Kraft und Energie. Und trotzdem kommt im Endeffekt kaum etwas Brauchbares heraus, weshalb man innerlich niedergeschlagen ist. Und auch im religiösen Bereich, in unserem Leben mit Gott, verhält es sich ähnlich. Auf der einen Seite spürt man bisweilen überdeutlich die gesunde religiöse Begeisterung. Man erfährt die Nähe und die Herrlichkeit Gottes und ist deshalb mit Freude erfüllt, ja man sprüht von ihr geradezu über! Auf der anderen Seite macht man aber auch Zeiten der inneren Trostlosigkeit und der scheinbaren Gottesferne durch - bei den Mystikern werden sie die dunklen Nächte genannt. 

Aber warum verhält es sich bei uns so? Warum diese Schwankungen? Warum einmal hoch hinauf und dann wieder ganz tief hinunter? Man versteht dieses Auf und Ab nicht. Gerade und besonders in unserem Leben mit Gott beschäftigt uns die Frage, warum der Herrgott dies wohl zulässt. Es sei an dieser Stelle ein Vergleich mit der Geschichte des alttestamentarischen israelitischen Volkes gezogen. Nicht selten musste es feindlichen Heeren gegenüberstehen, von denen es bedroht wurde. Und oft, wenn die Israeliten das eigene militärische Übergewicht bemerkt haben, ist es passiert, dass sie hochmütig geworden sind, dass sie gemeint haben, die Feinde „mit links“ schlagen zu können. Dann aber ist es auch vorgekommen, dass sie trotz des militärischen Vorteils eine bittere Niederlage einstecken mussten. 

Manchmal aber, wenn sie vor einer Schlacht die eigene hoffnungslose Lage feststellen mussten, haben sie in ihrer Not zum Herrgott gerufen und Ihn um Seine Hilfe gebeten. Statt sich der Verzweiflung hinzugeben, wuchsen sie im Vertrauen auf Den, Der die Geschicke der Völker lenkt und Der ihr Bundesgott war. Und welch` ein Wunder - sie haben gesiegt! Vielleicht spielt sich auch in unserem Leben Ähnliches ab, vielleicht sollen auch wir nach der Vorsehung Gottes entsprechende Erfahrungen sammeln. In der Regel wissen wir nicht genau, warum und weshalb Gott dies oder jenes so zulässt, wie es geschieht. Aber kann es nicht sein, dass der Grund dafür darin liegt, dass wir lernen sollen, Gott zu vertrauen? 

Natürlich ist es eine eindeutige Lehre der christlichen Offenbarung, dass nämlich die Gnade Gottes, um fruchtbar zu werden, auf die Mitwirkung des Menschen angewiesen ist. Nur dann, wenn der Mensch die Gnade Gottes ergreift und mit ihr mitwirkt, kann etwas Vernünftiges für das Himmelreich, für die Ewigkeit zustande kommen. Man darf auf keinen Fall die eigenen Hände in den Schoß legen und meinen, der liebe Gott wird es schon richten, ich bräuchte da keinen Finger zu rühren. Diesem Missverständnis wollen wir hier von vornherein vorbeugen. Aber auf der anderen Seite muss der Mensch auch wissen, dass der, der letztendlich allem Wachstum und Gedeihen gibt, nicht der Mensch selbst ist! Nicht darf er sich für den großen Macher halten und meinen, an seinem Wesen solle die Welt genesen. Er muss wissen, dass hinter allem schlussendlich der Herrgott steht. 

Und wenn man mal von Kraft und Energie strotzt, wenn einem vieles leicht gelingt, ist es dann vielleicht nicht gerade die vorausgehende Gnade Gottes, die einen hier wirkungsvoll antreibt? Wiederholen wir also nicht den Fehler des alttestamentarischen auserwählten Volkes, das sich gelegentlich zu viel eingebildet und gemeint hat, es allein, unter Ausschluss Gottes, könnte etwas vollbringen, was ihm ewigen Ruhm bringen würde. Wir wissen ja, wie dieser Hochmut in einer Blamage endete. Und auf der anderen Seite können jene Phasen, in welchen ich ein „Tief“ erlebe, eine Art Mahnung, eine Art vorbeugende Maßnahme Gottes sein. Ist es nicht möglich, dass einem durch die innere Niedergeschlagenheit, Leere und Trockenheit in Erinnerung gerufen werden soll: Mensch, gedenke, dass du letztendlich nicht auf deine Kraft allein bauen darfst und kannst, setze nicht nur in deiner seelischen Not die ganze Hoffnung und das Vertrauen auf Den, Der allein allmächtig ist und dir helfen kann, Der allein weiß, was deinem Seelenheil jeweils nützlich und deinem geistigen Fortschritt dienlich ist? 

Im Neuen Testament gilt die Bergpredigt als das kleine Evangelium. Wie im Alten Bund Gott vom Berge Sinai aus die Zehn Gebote verkündete, so spricht auch Christus als der eingeborene Sohn des Vaters von einem Berg zu den Menschen, die sich in der Niederung der Sünde und Gottesferne befinden. Es ist also derselbe erhabene Lehrer, der hier Seinen Willen kundgibt, es ist dieselbe göttliche Autorität, die sich an den Menschen wendet! 

Und die erste Botschaft Christi in dieser Bergpredigt lautet: „Selig die Armen im Geiste! Ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5,3). Unter diesen „Armen“ sind nicht jene gemeint, die materiell arm, die mittellos sind, die kaum etwas als ihren äußeren Besitz nennen können. Nein, selig werden gepriesen die „Armen im Geiste“, die wissen, dass sie armselige, schwache Geschöpfe sind und völlig abhängig von der Hilfe Gottes. Sie machen sich nichts aus sich selbst und unterliegen nicht der Gefahr, die eigene Privatperson vor Gott (und vor den Mitmenschen) als etwas Gewichtiges und Bedeutendes zu halten. Daher gestehen sie sich und den anderen in aller Ehrlichkeit ihre völlige Abhängigkeit vom Herrgott ein, sie anerkennen bereitwillig Seine Oberhoheit und setzen ihr ganzes Vertrauen auf Seine Hilfe! „Selig die Armen im Geiste!“ 

Denn „ihrer ist das Himmelreich“! Das Himmelreich, die Gemeinschaft mit Gott, wird denen, eigentlich nur denen (!) zugesprochen, die in dieser Weise arm sind im Geiste, die sich im Grunde ihres Herzens für hilfsbedürftige Diener Gottes halten. Dieser zweite Teil der Seligpreisung spricht in aller Deutlichkeit die Dringlichkeit dessen an, was im ersten Teil zur Sprache kam. Denn der, der sich etwas einbildet, der meint, etwas unabhängig von Gott vollbringen zu können, der trennt sich mit seiner Arroganz von der Gemeinschaft mit Gott, weil er eben nicht willens ist, sich Gott voll und ganz zu unterstellen! 

Die Erkenntnis dieser Zusammenhänge kann und soll auch helfen bei der Beurteilung der heutigen kirchlichen Situation. Wir erleben eine Zeit, die man ohne Übertreibung mit den Phasen der seelischen Trockenheit und geistigen Trostlosigkeit vergleichen kann. Scheint ja sehr vieles in der Kirche zerstört zu sein, hat ja die Amtskirche auf schändlichste Weise den Glauben und die Sakramente verraten. 

Aber vielleicht beinhaltet unsere Situation weitgehender Hilflosigkeit und äußerer Ohnmacht gegenüber solchen zerstörerischen Kräften auch eine Mahnung für uns, dass wir uns verstärkt auf das Wesentliche, auf den Kerngedanken des katholischen Glaubens und der christlichen Offenbarung besinnen sollten. Nicht darf uns so mancher Ballaststoff im Denken und Handeln den Blick darauf versperren und verhindern, dass sowohl wir im einzelnen als auch die Kirche allgemein nur dann vor Gott werden bestehen können, wenn wir aus dem Geiste Gottes, aus der Liebe Christi und in unbedingter Ausrichtung auf Seine Wahrheit leben und handeln. „Alles vermag ich in Dem, Der mich stärkt“ (Philipper 4,13). Wir sind nicht berufen, zweitrangigen Äußerlichkeiten anzuhangen, sondern, Zeugnis für Christus abzulegen und Sein Erlösungswerk nach vorhandenen Kräften und in je eigener Position fortzusetzen! So darf für uns z.B. nicht die Frage nach der Zahl der Gottesdienstbesucher oder nach den äußeren Kirchenbauten ausschlaggebend sein für die Analyse der gegenwärtigen kirchlichen Lage und für das Treffen konkreter Entscheidungen. Nein, die Sorge um die Ehre Gottes, um die Reinhaltung des überlieferten Glaubens und des hl. Meßopfer und um die Bewahrung und Verbreitung des Glaubens soll hier unser hauptsächlichster Anhaltspunkt sein. 

Wenn diese Interessen den Inhalt unseres geistigen Strebens ausmachen, dann besitzen wir ein festes Glaubensfundament und werden im Endeffekt auch moralisch überleben. In gewisser Weise dürfen wir dem Herrgott nicht nur für die „Hochs“ im Leben dankbar sein, sondern auch im Hinblick auf die „Tiefs“. Denn dadurch vollziehen wir ebenfalls entscheidende Erkenntnisse, die wir brauchen, um Gott zu begegnen, und sammeln vielleicht sogar auch solche Erfahrungen, die wir sonst nicht machen würden, und die uns noch mehr und intensiver am überirdischen Reichtum Jesu Christi Anteil gewinnen lassen: „Selig die Armen im Geiste! Ihrer ist das Himmelreich“! 

 

P. Eugen Rissling

 

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