Die Stunde der Finsternis


Das letzte Abendmahl ist vorüber. Mit den Aposteln, die noch ganz im Banne des eben erlebten unfaßbaren Geschehens stehen, geht der Herr durch das schlafende Jerusalem hinaus nach Gethsemani. Drei von den Jüngern: Petrus, Jakobus und Johannes nimmt er mit sich in den Garten hinein, während er die anderen am Eingang warten läßt.

Nun ist seine Stunde gekommen, die harte, schreckliche Stunde der Finsternis. Nun wird sich seine Gottheit ganz verbergen hinter dem Schleier seiner Menschheit. Nun wird er Mensch sein, ganz Mensch, bis zu den tiefsten menschlichen Erschütterungen. Alle Leiden und Schmerzen, die einen Menschen befallen können, wird er auf sich nehmen: alle Hilflosigkeit und Ohnmacht, alle Angst und Furcht, alle Schrecken des Lebens und alles Grauen des Todes.

Die drei Apostel schauen verwundert und erschüttert auf ihren Meister. Welch eine Veränderung ist plötzlich mit ihm geschehen! Ist das der Herr, dessen überirdische Hoheit und Würde, dessen Erhabenheit und Wundermacht sie in scheuer Ehrfurcht bewundert hatten? Mit welcher Entschlossenheit hatte er früher von seinem kommenden Leiden gesprochen: “Ich habe eine Taufe (Bluttaufe) auf mich zu nehmen, und wie drängt es mich, bis sie vollzogen ist” (Lk 12,50). Als Petrus ihn wohlmeinend hatte abhalten wollen, nach Jerusalem zu gehen, wo die Feinde Mordpläne gegen ihn schmiedeten, hatte er den Apostel angeherrscht: “Geh weg von mir, du Satan!” (Lk 4,10.) Wie hoheitsvoll hatte er einst in der Synagoge von Nazareth sich als den verheißenen Messias bekannt, wie furchtlos und gelassen war er durch die wütende Schar seiner Landsleute geschritten, als sie lärmend auf ihn einstürmten, um ihn den steilen Felsen hinabzustürzen! Wie unbekümmert um die Folgen hatte er die feilschenden Händler und Geldwechsler mit Worten flammenden Zornes aus dem Tempel gepeitscht! Wie unerschrocken hatte er den Pharisäern ihre scheinheilige Maske vom Gesicht gerissen und ein siebenfaches “Weh euch!” entgegengeschleudert! Nein, früher kannte er kein Bangen und Zagen.

Jetzt aber, in Gethsemani, ist er ein anderer. Jetzt zittert und bangt er, jetzt bittet und fleht er “mit lautem Rufen unter Tränen” (Hebr 5,7): jetzt wankt und bricht er zusammen wie ein vom Fieber Geschüttelter, jetzt bäumt er sich auf wie ein mit dem Tode Ringender. Die Apostel kennen ihn nicht mehr. Ist das der gleiche, der in majestätischer Macht dem tobenden See und heulenden Sturm gebot, den Kranken durch sein Wort die Gesundheit schenkte, ja selbst dem Tod seine Beute entriß? Kein Schimmer der Göttlichkeit durchbricht jetzt die sternenlose Finsternis. Das Bild Gottes, das sich im jahrelangen vertrauten Zusammenleben in den Herzen der Apostel gestaltet hatte, verlor alle Farbe. Nun sahen sie nichts mehr von dem blinkenden Himmelsglanz, der sie bei der Verklärung auf Tabor in anbetender Ehrfurcht auf die Knie gezwungen hatte. Was sie jetzt unter den dunklen Olivenbäumen zusammengekauert im Gras knien sehen, ist das nicht ein gewöhnlicher Mensch gleich ihnen?

Die Stunde der Finsternis, die über den Herrn hereingebrochen war, war auch zur Stunde der Finsternis für seine Apostel geworden. Ihr Glaube ward zutiefst erschüttert. Sie wären irregeworden an ihrem Herrn und Meister, wenn nicht der Gedanke an die erlebten Großtaten Jesu wie ein fester Anker das schwache Schifflein ihres Glaubens festgehalten hätte...

Schon auf dem Wege zum Ölberg hatte der Heiland eine bange Furcht und ein unheimliches Grauen gezeigt. Jetzt, in Gethsemani, steigert sich diese Unruhe ins Riesengroße. “Mir ist zum Sterben bang”, sagt er zu den Aposteln. “Er fing an zu zittern und sich zu entsetzen”, berichtet der Evangelist. In seiner Seele stürmen Angst und Schrecken wild durcheinander. Seine ganze menschliche Natur ist in fiebernder Aufregung. Todesblässe liegt auf seinem Antlitz. Jetzt gilt das Wort des Psalmisten: “Mein Herz ist voll Angst, und Todesfurcht ist auf mich gefallen... Die Seele ist mir ganz verwirrt... Die Not ist nahe, und niemand hilft... Wie Wasser bin ich hingegossen; alle meine Glieder haben sich gelöst, mein Herz ist mir wie Wachs geworden in meinem Busen” (Ps 22,12 ff.; 6,4). Jetzt geschieht, was Ezechiel geweissagt hat: “Eine Trübsal kommt nach der anderen, das Ende kommt, fürwahr, es kommt das Ende! Es erhebt sich wider dich, siehe, es kommt! Es kommt die Vernichtung über dich!” (7,5.)

Jesus wußte, was ihm bevorstand. Er sah den kommenden Martertod in all seinen schrecklichen Einzelheiten voraus, bis zum letzten Atemzug am Kreuz. Wer schon einmal eine schwere , lebensgefährliche Operation durchgemacht hat, weiß wie bei dem tage- und vielleicht wochenlangen Warten auf den Eingriff des Arztes die Nerven vor Spannung zerreißen möchten.

Jesus wußte genau, was ihm bevorstand. Er hatte es immer gewußt. Unabwendbar sah er es an sich herankommen. Er wußte, dass schon alles für seine Marter vorbereitet war. Er sah schon die Geißeln geflochten, mit denen er zerschlagen, die Dornenkrone, die ihm aufs Haupt gepreßt, die Nägel, mit denen er ans Kreuz geschlagen werden sollte. In beklemmender Todesangst schreckte er zurück vor all dem Grauenhaften, das unaufhaltsam gegen ihn eindrang. “Er fing an zu zittern.” Sein jugendstarkes, von keiner Krankheit zermürbtes Leben bäumte sich auf gegen den allzu frühen Tod. Und was für einen Tod! Er hielt es vor herzbeklemmender Angst nicht mehr aus in der Einsamkeit des Gartens. Voll Unruhe ging er zu den Aposteln und klagte: “Mir ist zum Sterben bange” (Mt 26,37).

Todesangst überfiel Jesus in Gethsemani und krampfte sein Herz zusammen bei dem Gedanken an alle die Pein, die nun über ihn kommen würde. Aber wir dächten zu menschlich vom Gottessohne, würden wir glauben, dass nur der bevorstehende Tod wie ein unheimliches Schreckgespenst vor seinem Geiste stand. Nicht Todesfurcht allein war die Ursache seiner Angst, wenigstens nicht die einzige und erst recht nicht die größte. Was ihm Seufzer tiefsten Weh’s entpreßte und ihn bis in die innerste Seele erschauern ließ, war die Sünde. Jesus hat in Gethsemani die Sünde gesehen. Und da “begann er zu zagen”, sagt der Evangelist. Er ward von Ekel und Widerwillen erfaßt. Die zahllosen Menschensünden aller Zeiten und Völker standen vor seiner Seele, er sah sie vor sich wie ein widerliches Gift, das ihm zum Trinken gereicht wurde. Er schaute die Sündenberge, die sich aufgetürmt hatten seit Evas Sünde bis auf diese Stunde. Er sah die Schlammfluten, die sich heranwälzten aus all den verdorbenen Reichen des Altertums - aus Babylon und Ägypten, aus Asien, Griechenland und Rom. Er sah die Sündenflut, die durch die Jahrhunderte bis ans Ende der Zeiten geht. Die Missetaten aller vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zeiten lasteten auf ihm, dem Lamme Gottes, das gekommen war, sich mit den Sünden der Welt beladen zu lassen - alle Lästerungen und Flüche, alle Meineide und Lügen, alle Gewalttaten und Sittenlosigkeiten, alle stummen und himmelschreienden Menschensünden, alle gottesräuberischen Beichten und Kommunionen, alle Häresien und Apostasien. Jetzt erfüllte sich das Prophetenwort: “Gott hat auf ihn die Schuld von uns allen gelegt” (Js 53,6). Wie schreckhafte Spukgestalten drangen alle diese Sünden auf ihn ein und erfüllten ihn mit namenlosem Entsetzen. Er, in dem “alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen sind und in dem die Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt” (Kol 2, 3), erkennt mit erschreckender Deutlichkeit die ganze Ruchlosigkeit der Sünde. Er sieht die ganze abstoßende Häßlichkeit der Sünde und empfindet ihre volle Bitterkeit, die nach einem Ausdruck von Moses “Drachengeifer und grausigem Natterngift” gleicht (Dt 32, 33). Jesus weiß nichts Schrecklicheres, nichts Zerstörenderes, nichts Ekelhafteres als die Sünde.

Während des Krieges las man von Sanitäts-Soldaten, die zur Feststellung der Leichen Massengräber wieder öffnen mußten. Als sie die halbverwesten Leichen erblickten, ergriffen sie vor Ekel die Flucht. Man hörte von den Matrosen von Sebastopol, die als Taucher auf dem Meeresgrunde die ungezählten ertränkten Opfer der Bolschewisten sahen. Zwei von ihnen brachte der grausige Anblick um den Verstand, ein dritter weigerte sich, seinen Dienst noch weiter zu versehen. Sie hatten die Fäulnis, die Verwesung gesehen. Der Ekel würgte sie und machte sie krank. In Gethsemani hat der Herr die Sünde gesehen. Nicht so, wie sie sich uns zeigt, wenn sie uns auf dem Lebensweg begegnet - mit einem verführerischen Lächeln, in lockender Schönheit und glitzernder Farbe, sondern wie sie wirklich ist, als Kind Satans, als eine Ausgeburt der Hölle.

Aber auch in diese dunkle Stunde fällt ein heller Lichtstrahl. Es ist der Blick auf den Mann der Schmerzen, der im Ölgarten, auf die kalte Erde hingestreckt, bittend und flehend Todesangst leidet. Um all der vielen willen, die täglich hochbetagt oder in der Blüte der Jahre sterben, hat der Heiland sein Herz freiwillig der Todesangst preisgegeben. Nun können sie alle, nun können auch wir, wenn die letzte Stunde über uns hereinbricht, sagen: Auch für ihn war der Tod entsetzlich. Auch er hätte noch gerne gelebt, auch er war jung und stand erst am Beginn seiner Mannesjahre und seiner Lebensarbeit. Auch er hatte Freunde, von denen er sich trennen mußte, auch er hatte eine Mutter, die allein zurückbleiben würde. Hat er gelitten, so kann und muß auch ich leiden, denn er litt für mich.

Jesus hat durch seine Todesangst am Ölberg und durch sein Sterben am Kreuz dem Tod den giftigen Stachel genommen. Ein kleines Mädchen lag schon lange krank darnieder; es wußte bereits von seinem bevorstehenden Tod. Aber es war so ruhig und gefaßt, dass der Priester erstaunt fragte: “Hast du denn keine Angst vor dem Sterben?” Das Kind antwortete: “Früher war mir wohl angst, seitdem sich aber die Geschichte mit der Wespe zugetragen hat, fürchte ich mich nicht mehr.” - “Welche Geschichte?” - “Ich saß draußen im Garten, und da flog plötzlich eine Wespe heran. Erschreckt rief ich: Mutter, Mutter, sie wird mich stechen! Die Mutter umarmte mich lächelnd und sagte: “Fürchte dich nicht, Liebling!” Und die Wespe kam und setzte sich summend auf den Arm der Mutter. Tief stach sie hinein. Die Mutter aber lächelte immer noch und sagte: “Nun siehst du, dir tut es nicht weh. Gerade so wird es uns beim Sterben ergehen; auch der Tod wird uns nicht wehtun, denn sein Stachel ist ja vorher in das Herz des lieben Jesus gedrungen:” - Seitdem fürchte ich den Tod nicht mehr.”

Alle Menschenangst und Menschenverlassenheit hatte Jesus im Garten Gethsemani erduldet. Er war in die Welt gekommen, um zur Erlösung der Menschen zu leiden und zu sterben. Jetzt aber, als die Stunde herannahte, bäumte sich seine menschliche Natur dagegen auf. Es war allzu schwer, was kommen sollte. Es war ein Kampf auf Leben und Tod, der unter den Ölbäumen Gethsemanis ausgekämpft wurde - auf Leben und Tod der ganzen Menschheit. Eine Entscheidung von unvorstellbarem Ausmaß hing von diesem Kampfe ab. Kein Wunder, dass der entsetzliche Kampf den Herrn so erschöpfte, dass blutige Schweißtropfen von seinem Gesicht zur Erde rannen. Die ganze unsichtbare Welt hielt den Atem an und sah dem entscheidenden Kampfe zu. Würde Jesus zu Leiden und Tod ja sagen oder nein? Seine Natur sträubte sich dagegen, Angst und Widerwille und Traurigkeit warfen die Seele des Herrn hin und her wie der Sturm das schwankende Boot. Jetzt hieß es: Entscheide dich! Aber die Entscheidung war so entsetzlich schwer. Seine menschliche Natur schauderte vor dem, was kommen sollte. Alle vierzehn Kreuzwegstationen standen in unverhüllter Grausamkeit vor seiner Seele. Sollte er ja zu ihnen sagen? Sollte er sich freiwillig dem schmählichsten, schmerzlichsten Henkertod überliefern?

In Sterbensangst rang der Herr Stunde um Stunde. Immer höher stieg die Not. Aber mochte ihm fast das Herz zerspringen vor Angst - mit übermenschlicher Kraft kämpfte er alles Widerstreben nieder und rang sich das sieghafte Ja ab: Vater dein Wille geschehe! Er erhebt sich von der kalten Erde, wischt sich den blutigen Schweiß aus dem Gesicht und mit wiedergewonnener Selbstbeherrschung spricht er: “Die Stunde ist da. Der Menschensohn wird in die Hände der Sünder ausgeliefert. Steht auf, laßt uns gehen!” (Mt 26, 45.) Das ist nicht mehr der zitternde Mensch, der, von der Todesangst gequält, sich auf dem Boden krümmte. Aufrecht und mutig steht er da, wie ein Feldherr, der das Kommando zur Feldschlacht gibt. In wahrhaft göttlicher Ruhe und Gelassenheit spricht er das Wort, auf das Himmel und Erde gewartet hatten: Auf, laßt uns gehen!

Die Entscheidung ist gefallen. Der Sieg ist errungen.


Rathgeber, Alphons Maria, Der Mann der Schmerzen. Verlag Winfried-Werk Augsburg 1958, S.43f.,49f.,55f.,52f.

 

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