Beurteile dich im Lichte Gottes!
 

Fastenpredigt von S.E. Dr. Storck  († 23.4.1993)


Liebe Brüder und Schwestern in Christus, Unserem Herrn!


Wir wollen in unserem thematischen Zusammenhang auch heute wieder über ein geistliches Thema sprechen. Als ich mir überlegte, worüber ich zu Ihnen sprechen sollte, kam mir der Gedanke, Ihnen einmal den Hinweis zu geben, die Empfehlung zu geben, zu überlegen, wo der Einzelne in besonderer Weise, um geistlich voranzuschreiten, um Gott näher zu kommen, um in der Liebe zu wachsen, wo er in besonderer Weise gefährdet ist, wo seine eigene, seine spezifische Schwäche ist, die er vielleicht gar nicht bemerkt, die er vielleicht schon lange unbeachtet gelassen hat, die er Jedenfalls nicht wirksam genug bekämpft hat.

Freilich, wenn man das sagt, dann ist eben die Schwierigkeit, wie komme ich daran, wie stelle ich das fest. Es gibt ja Menschen, die etwas für eine Schwäche halten, was vielleicht gar nicht eine Schwäche sein muß, sie bilden sie sich nur ein. Umgekehrt, wahrscheinlich noch häufiger, gibt es Menschen, die etwas als Stärke, als Vorzug betrachten, was in Wahrheit überhaupt kein Vorzug ist. Es ist sehr wichtig, einen Maßstab zu gewinnen, von dem her beurteilt werden kann, was eine Schwäche, eine schlechte Gewohnheit ist, und was ein wirklicher Vorzug, eine Stärke ist. Wenn man sich diese Frage stellt nach dem Maßstab, den man anlegt, dann muß natürlich klar sein, daß dieser Maßstab das Licht Gottes für mich sein muß.

Es hat ja keinen Sinn, sich etwa nach den Menschen zu richten, nach dem, was die Menschen schätzen, was sie an einem vielleicht interessant, gut oder weniger gut bzw. schlecht - beides ist möglich - beurteilen, sondern es ist entscheidend, was in Wahrheit vor Gott für mich gilt. Auch das eigene Urteil ist durchaus, wenn es nicht an der Wahrheit Gottes gemessen ist und daran seine Normierung findet, sehr unvollkommen. Diesem eigenen Urteil ist durchaus zu mißtrauen, muß man sogar mißtrauen. Sie sehen hier wie in anderen Zusammenhängen: Alles hängt eigentlich daran, daß ich Gott begegne, dem Lichte Gottes begegne; erst im Lichte Gottes kann ich mich selbst sehen, wie der Psalm so wunderbar sagt: "In deinem Lichte sehen wir das Licht" (Ps. 35,10). In diesem Lichte Gottes erfassen wir uns, sehen wir, wer wir sind.

Es ist doch bemerkenswert Sie werden das sicher an sich und anderen kennen , daß Menschen sich durchaus falsch einschätzen, daß sie sich durchaus nicht als der, der sie in Wahrheit sind, erkennen. "Erkenne dich selbst!", das war ja schon ein Thema, das in der Antike, etwa in Griechenland, bei den Weisen Griechenlands als entscheidendes Thema galt. Diese Selbsterkenntnis ist eben nur möglich, wenn ich die Erkenntnis Gottes habe und gewinne. Darüber haben wir schon bei anderen Gelegenheiten gesprochen. Wir werden es später noch einmal tun müssen. Ich wollte auf das Thema hinaus, daß wir im Zusammenhang der Gotteserkenntnis erfassen: wer wir sind und wo wir unsere spezifische Schwäche haben.

Es ist gut, wenn man auf der Suche nach dieser Schwäche auch nicht bei einem Phänomen, das einem vielleicht kommt, das einem vielleicht einfällt, das man vielleicht kennt oder auf das man auch hingewiesen wird von anderen, wenn man also nicht bei diesem Phänomen, dieser einzelnen Erscheinung des geistlichen oder des charakterlichen Lebens stehen bleibt, sich vielmehr die sehr wichtige Frage vornimmt: Warum ist das so bei mir? Woran liegt das? Was ist die entscheidende Voraussetzung. die entscheidende Wurzel, aus der das kommt?

Sie kennen alle die wichtige Frage bei einem medizinischen Befund. Bei einer Krankheit etwa. Daß der Arzt die entsprechende Diagnose stellt. Und wenn es ein guter Arzt ist, der heute freilich sehr selten ist, dann bleibt er auch nicht einmal bei dem Krankheitsbefund, den er gefunden hat, stehen, sondern er stellt die Frage nach der Ursache, nach den Zusammenhängen oder nach der Wurzel dieser Krankheit. Erst wenn der Arzt diese Wurzel erkannt hat, kann eine entsprechende, eine angemessene Therapie beginnen. Dann wird nicht nur ein Organ geheilt, während andere krank bleiben oder geschädigt werden, sondern dann kann man den ganzen organischen Zusammenhang der Krankheit betrachten und behandeln und sie dann auch wirklich heilen. Ich komme immer mehr dazu durch Erfahrungen des geistlichen aber auch des körperlichen, des physisch organischen Lebens zu erkennen, daß man, wenn man sich nur anstrengt, vollkommen geistlich und körperlich gesund werden kann. Wenn man das aber sagt und sieht, dann muß man zugleich sagen, daß das heute in ganz wenigen, in ganz seltenen Fällen überhaupt erkannt und realisiert wird. Sie erkennen die Gründe, darüber haben wir schon vielfach gesprochen.

Es ist nur wichtig, daß wir einzelne, die wir hier die Möglichkeit haben, geistlich zu leben, sakramental zu leben, die Sakramente zu empfangen - das ist ja das Entscheidende -, daß wir für uns diese Vorteile nutzen und daß wir, das ist ja sicher eine Verantwortung, die wir vor Gott und vor den Menschen haben, wenn wir schon den Vorzug haben, die heilige Messe zu besuchen, die heiligen Sakramente empfangen zu dürfen in dieser Zeit, daß wir sie auch in besonderer Weise für uns fruchtbar und gewinnbringend verwerten. Christus hat ja, das darf und muß man sagen , jeden von uns zu einer ganz spezifischen Form des Lebens, und nicht nur irgendeines Lebens, sondern des Lebens in Heiligkeit berufen! Auch davon haben wir wiederholt gesprochen, wenn Sie sich entsinnen.

Es ist nicht nur der kanonisierte Heilige zur Heiligkeit berufen; jeder von uns ist zur Heiligkeit berufen. Jeder von uns hat spezifische Gnaden, spezifische Begabungen von der Schöpfungsseite her, die er in den Dienst der Kirche, in den Dienst der Weitergabe der Liebe, der Verkündigung des Evangeliums einzubringen hat. Das ist aber in der Regel so und das macht die Gefährdung des Menschen, daß er diese Vorzüge vielleicht gar nicht sieht, daß er vielleicht von ganz anderen Vorzügen, die andere Menschen haben mögen, geblendet ist. Der Mensch ist ja viel zu sehr geneigt das ist auch eine Auswirkung der Erbsünde ,auf die Begabung, die Vorzüge des anderen Menschen zu schauen, danach zu schielen, darauf zu starren und sogar zu sagen: Wäre ich doch auch so! Hätte ich doch auch das und das, diesen oder jenen Vorzug! Ohne zu sehen, daß Gott ihm ja in einer ganz speziellen Weise begabt, mit Begabung ausgestattet und mit ganz bestimmten Gnaden auch versehen hat. Und darum geht es gerade, daß wir diese Begabung in geistlicher Hinsicht, diese Begnadung, unsere spezifische Form der Berufung zur Heiligkeit gerade erkennen und realisieren!

Freilich - ich muß jetzt noch einmal konkret darauf kommen: um das zu erkennen, muß ich letztlich Christus begegnen, wozu ja das sakramentale Leben unbedingt, wenn man es ernst nimmt, führen muß; daß ich nämlich aus Christus lebe! Und dann kommt auch eigentlich der Reichtum des ganzen Lebens. Dann kommt auch die spezifische Bejahung, die mein Leben verlangt, und die ich zu meinem Leben geben soll. Mit dieser spezifischen Bejahung, die ich geben soll zu Gott, zu der Schöpfung, die Gott geschaffen hat, kommt auch die Zustimmung zu mir, die Zustimmung zu meiner Freiheit.

Wenn man das einmal vergleicht, wenn man diese Freiheit mit der Freiheit, von der die Welt heute spricht, vergleicht, dann sehen Sie: Diese Freiheit, von der ich spreche, ist die Freiheit der Liebe, daß ich "Ja!" zu Gott sage.

Die Freiheit, die man heute im Munde führt, ist nicht die Freiheit der Liebe, sondern ist der Anspruch des Menschen, das Pochen auf das Recht des Menschen, über sich selbst zu verfügen. Der religiöse Mensch verfügt nicht über sich selbst, sondern er sagt ja zu Gott.
Der moderne Mensch will über sich selbst verfügen. Hier sehen Sie gerade: Der moderne Mensch ist nicht frei, er will frei sein; er will frei sein, aber er ist es nicht! Und weil er es auch weiß und erfährt, daß er nicht frei ist, führt er die Freiheit im Munde, sucht er verzweifelt, oft rebellierend sogar, die Freiheit. Denken Sie an die Jugendlichen, denken Sie an die Krawalle, die überall in den Städten jetzt entflammen! Weil er nicht frei ist, sucht der Mensch diese Freiheit verzweifelt, oft mit Gewalt sogar.

Der religiöse Mensch verzichtet auf alle Gewalt. Er sagt ja zu Gott und erfährt sich darin als von Gott bejaht, als von Gott geliebt.

Und das ist ja das Entscheidende und das muß auch das Entscheidende sein, wenn ich der entscheidenden Schwäche, der Wurzelschwäche wenn ich so sagen darf , der Wurzelsünde in meinem Leben nachgehe.

Das tun wir ja nicht, um sozusagen egozentrisch jetzt Selbstbeschauung zu betreiben, um uns noch mehr, noch stärker im Spiegel zu sehen, noch mehr um uns zu kreisen, noch mehr uns selbst zu zernagen, wie es der narzistische Mensch tut, sondern das tun wir, um in der Liebe zu wachsen. Das muß das Interesse sein, das muß das Motiv sein und das muß zugleich das Ziel unserer Bemühung sein.

Vielleicht bemühen Sie sich nicht nur einmal, vielleicht am heutigen Abend, sondern einmal eine längere Zeit hindurch, auch im Gebet, auch in der Betrachtung, vor allem dadurch, daß Sie auch den Heiligen Geist um die entsprechende Erleuchtung bitten, daß Sie sich sehen so, wie Gott Sie sieht, und dann im Lichte Gottes eben sich wahrhaft erkennen mit Ihren Vorzügen, aber auch eben gerade jetzt in dieser Fastenzeit mit dieser Schwäche, die für Sie besonders wichtig, besonders charakteristisch ist, aus der sich, wie man leicht erkennen kann, dann auch andere Schwächen angrenzender Art ergeben und die man dann eben auch mit behandeln kann, mit berücksichtigen kann, ablegen kann.

Das Entscheidende muß sein, dieser Wille, den alten Sauerteig, um in dieser Sprache der Heiligen Schrift selbst zu sprechen , ganz auszufegen, ganz auszufegen, um eine Gestalt der Liebe zu werden. Und dann kann man eben, ich sagte das eben schon, ich darf es zum Schluß noch einmal sagen , dann kann man eben grundlegend ja zu Gott sagen!

Dann bin ich ein erfüllter Mensch. Dann brauche ich nicht auf die andern zu schauen und ihre Vorzüge, auch ihre Erfolge, sondern dann schaue ich allein auf Gott.
Es ist ja sehr bemerkenswert, daß es doch relativ viele Menschen gibt, jedenfalls mehr Menschen, als man ahnt, die ein von der Öffentlichkeit völlig unerkanntes Leben führen, die in den Augen der Öffentlichkeit gar nichts gelten, die auch diese Geltung gar nicht suchen, aber die doch völlig im Reinen mit sich sind, völlig im Frieden mit Gott leben, die in einer Welt leben, die die meisten gar nicht kennen, die die meisten gar nicht einmal ahnen und doch ideal ist, ideal, weil diese Welt die Welt des Lebens mit Gott gerade darstellt!

Das müssen wir gerade auch erstreben, um mit uns selbst völlig ins Reine zu kommen. Vor einiger Zeit sagte einmal eine Person: Es sei unmöglich, daß ein verheirateter Mensch heilig werden könne. Das ist natürlich ein ganz bedenkliches Urteil, das einen ganzen Hintergrund eröffnet. Die Heilige, deren Fest wir heute feiern, war ja verheiratet. Sie ist des Umgangs, des trauten Umgangs so sagt die heilige Liturgie im Kirchengebet mit Engeln gewürdigt worden.

Sehen wir daran, welche Möglichkeit, welche geradezu unausschöpfbare Möglichkeit jeder einzelne von uns hat! Ich brauche nicht Priester zu sein. Ich brauche nicht Ordensmann zu sein. Ich kann überall, wo es nur sein will und wo ich nur stehe, den Ruf Gottes erkennen, kann ihn anerkennen, kann ihn aufgreifen, kann die Gnade Gottes aufgreifen und sie fruchtbar verwirklichen.
Ich kann sogar welcher Reichtum unserer Beziehung zu Gott! im Gebet ihn um noch mehr Gnaden bitten. Und das sollen wir auch tun und immer wieder tun, nicht nur einmal! Und mit dieser Gnade Gottes und der Führung Seines Heiligen Geistes, der uns ja von der Taufe an geschenkt ist und der uns in jedem Sakramente und im Empfang jeden Sakramentes noch reichlicher geschenkt wird, können wir eine solche Gestalt, eine unverwechselbare Individualität, eine individuelle Gestalt der Liebe Christi gewinnen und verwirklichen.

Dann kann auch ich durch mein Leben einen Beitrag leisten zur Verkündigung des Evangeliums, zur Weitergabe des Glaubens, vor allem eben im Glauben zur Erkenntnis der Liebe, die die Menschen heute noch mehr, noch viel dringlicher als je brauchen, damit sie den Frieden finden. Denn dieser Friede ist es letztlich, der die Sehnsucht meines Herzens stillt.

Nichts kann ihn sonst geben. Die Menschen erfahren das ja auch immer, daß all die Wege, die sie beschreiten, welcher Art sie immer sein mögen, diesen Frieden mit Gott nicht gewähren.
Tragen wir ein wenig für uns dazu bei, in unserer Situation, an unserer Stelle, gerade dadurch, daß wir vollkommener werden, dadurch, daß wir heiliger werden, mehr Licht werden, daß gerade dadurch das Licht Christi diesen Menschen in Finsternis leuchten kann! Amen.
 

 

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